Das KARMEN-Experiment ( für KArlsruhe Rutherford Mittel-Energie Neutrino)
wurde von zwei Forschungsschwerpunkten geprägt: der Frage nach der
Wechselwirkung von Neutrinos mit Atomkernen sowie der Suche nach
Neutrino-Oszillationen. Zur Messung benutzten die Wissenschaftler einen an
der Spallationsneutronenquelle ISIS erzeugten intensiven Neutrinostrahl.
Als Nachweismedium diente ein 56 Tonnen schwerer Mineralöltank, in dem
Neutrinoreaktionen charakteristische Lichtsignale erzeugten, die dann
durch so genannte Photomultiplier nachgewiesen wurden. Zum Schutz vor
störenden Ereignissen durch die kosmische Höhenstrahlung befand sich der
Detektor in einer insgesamt 7000 Tonnen schweren Stahlabschirmung, hinter
der schwersten, jemals gebauten beweglichen Tür. Neben dem
Forschungszentrum Karlsruhe waren am KARMEN-Experiment die Universitaeten
Karlsruhe, Erlangen, Bonn, Oxford und London beteiligt.
Der Hauptakzent der ersten Messjahre lag auf Präzisionsmessungen im
Zusammenhang der Neutrino-Wechselwirkungen. Die Messungen bestimmten
sowohl die Häufigkeit als auch die Art und Weise von Neutrinoreaktionen
mit Materie. Insbesondere Astrophysiker sind an diesen so genannten
Wirkungsquerschnitten interessiert, da sie Einblick in die Dynamik einer
Supernova und die damit einhergehende Entstehung neuer Elemente
ermöglichen. Supernovae markieren das Ende massiver Sterne und gehen mit
den gewaltigsten Explosionen einher, die die Natur kennt. Mehr als 99
Prozent der Energie, die bei einer Supernova freigesetzt wird, wird von
Neutrinos ins All transportiert. Außerordentlich hilfreich sind die von
KARMEN im Labor gemessenen Werte, um die Häufigkeit der von Neutrinos im
Sterneninneren erzeugten Elemente zuverlässig abschätzen zu können.
Darüber hinaus konnte KARMEN erstmals eine Neutrinoreaktion beobachten,
mit der sich alle bei einer Supernova-Explosion emittierten Neutrinosorten
nachweisen lassen - ein wichtiger Schritt im Hinblick auf künftige
Experimente, die Neutrinos aus solchen Explosionen direkt nachweisen
wollen.
Ergebnisse amerikanischer Physiker widerlegt
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Der zweite Schwerpunkt des KARMEN-Experiments lag auf der Suche nach
Neutrino-Oszillationen. Unter diesen versteht man das quantenmechanische
Phänomen der wechselseitigen Umwandlung der drei Neutrino-Typen. Dabei
bestimmen Oszillationsexperimente nicht die Masse der einzelnen
Neutrinosorte, sondern deren Massendifferenz, aus welcher dann untere
Grenzen für die Neutrinomassen abgeleitet werden können. Anders gesagt:
Der Nachweis von Neutrino-Oszillationen gilt als Beweis dafür, dass
Neutrinos Masse besitzen. Die Frage, ob Neutrinos überhaupt eine Masse
haben bzw. welche Masse sie besitzen, beschäftigt nicht nur die
Teilchenphysiker, sondern auch Kosmologen und Astrophysiker. Schließlich
könnten massebehaftete Neutrinos einen Teil der dunklen Materie ausmachen,
deren Existenz in Kosmologie und Astrophysik seit langem beobachtet wird.
Unter "dunkle Materie" versteht man den Beitrag nicht-leuchtender Materie
zur Materiedichte des Universums.
Mit hohem Aufwand und Großexperimenten rund um den Globus versucht man
der Masse der Neutrinos auf die Spur zu kommen. Dabei erfassen die
Experimente infolge ihrer unterschiedlichen Dimensionierung auch jeweils
unterschiedliche Skalen der Massendifferenzen. Das KARMEN-Experiment
untersuchte einen für die dunkle Materie relevanten Massenbereich. Als
1995 Wissenschaftler aus Los Alamos in eben diesem Bereich
Neutrino-Oszillationen ausmachten, entschloss man sich in Karlsruhe zu
einem umfangreichen Umbau des Experiments. Danach war KARMEN als weltweit
einziges Experiment in der Lage, die Ergebnisse der Amerikaner zu
überprüfen. Nach vier Jahren Messzeit sind die KARMEN-Resultate
eindeutig: Für etwaige Neutrino-Oszillationen finden sich keinerlei
Hinweise. Damit schließt das KARMEN-Experiment die Oszillations-Behauptung
des amerikanischen Experimentes mit hoher Wahrscheinlichkeit aus.
Die Bedeutung dieses Ergebnisses ist nachvollziehbar, wenn man es im
Kontext der bisher durchgeführten Neutrino-Oszillationsexperimente
betrachtet: Insgesamt existieren heute drei verschiedene, schwer
miteinander verträgliche experimentelle Hinweise für
Neutrino-Oszillationen. Da dank des KARMEN-Experiments eine der drei
bislang vorhandenen Beweise als unwahrscheinlich erscheint, lässt sich mit
Hilfe von KARMEN nun ein schlüssiges Szenario mit drei massebehafteten
Neutrinosorten konstruieren. "Dies ist äußerst wichtig für unser
Verständnis von Neutrinos", betont der Sprecher des Experiments, Dr. Guido
Drexlin vom Institut für Kernphysik betont.
Das Neutrino-Know-how der an KARMEN beteiligten Wissenschaftler des
Forschungszentrums Karlsruhe wird auch in Zukunft erhalten bleiben, da sie
ihr Engagement für ein neues internationales Neutrino-Projekt bereits
zugesagt haben: Mit dem Karlsruher Tritium Neutrino-Experiment (KATRIN)
soll auf dem Gelände des Forschungszentrums in den nächsten Jahren die
Masse des Elektron-Neutrinos mit hoher Präzision gemessen werden (astronews.com
berichtete).